Forschungsstand des Apokalyptik-Verständnisses der historisch-wissenschaftlichen Forschung Stand 2018
Jörg Frey, die Apokalyptik als Herausforderung der neutestamentlichen Wissenschaft ... (S.23-92)- einführender Überblicksartikel(fn)
Die Einordnung der Apokalyptik als Begriff und Konzeption ist für die Interpretation des neuen Testamentes entscheidend („Prüfstein“-Argument, vgl. K. Koch).
Seit der historisch-kritischen Forschung ist die Entdeckung der Apokalyptik turbulent diskutiert worden. In Abgrenzung zu heutigen fundamentalistischen Interpretationen, versucht historische Forschung, Entstehungsgeschichte und Rezeption im Neuen Testament durch Jesus, seine palästinensische Ur-Gemeinde, die hellenistisch-jüdische Tradition zu deuten.
Dabei ist auffällig, dass die Einordnung dieser Konzeptionen meist aus theologischen Gründen (systematisch-theologische Festlegungen, oder hermeneutisch begründeter Axiome/Vorurteile(fn)) konträr bewertet wird. Weitere Hintergründe erläutert Klaus Koch in seiner Streitschrift: Ratlos vor der Apokalyptik.
Klaus Koch hat mit seinem berühmten Diktum in seiner Streitschrift "Ratlos vor der Apokalyptik, 1970" das Problem auf den Punkt gebracht: Kapitel VI: „Das angestrengte Bemühen, Jesus vor der Apokalyptik zu retten. Die kontinentale neutestamentliche Wissenschaft" (S. 55–90).
Diese Auseinandersetzung wurde dann bis 1999 von ihm in Zeitschriften und Aufsätzen ausführlich weiterreflektiert und mit unterschiedlichen Kontrahenten geführt.
Jörg Frey, beschreibt in seinem Aufsatz 2006 die Apokalyptik als andauernde Herausforderung der neutestamentlichen Wissenschaft. Zum Schlüsselproblem „Jesus und die Apokalyptik“ meint er abschließend: diese Diskussion habe sich historisch geklärt, dabei seien internationale (englischsprachige) Forschungsergebnisse führend gewesen.
Klassische Interpretations-Linie (Mainstream)
- Seit Wellhausen wirkt die sogenannte *Propheten-Anschlusstheorie*: Jesus wird historisch direkt an die Propheten als der letzte Prophet Gottes angeschlossen. 500 Jahre alttest.-jüdische Theologie der Zwischenzeit bis zum Jahre 30 n. Chr. werden als Niedergangszeit beschrieben. Damit werden ethische Aussagen Jesu (als prophetische Kritik) aufgenommen und ein der Moderne anpassbares, aus überzeitlichen Wahrheiten konstruiertes, ::moralisch dominiertes Jesusbild ::entwickelt und die Herausforderung umgangen, die Gestalt Jesu aus der kohärenten Entwicklung jüdischer Theologie heraus zu deuten.
- Geschickt wird mit einer angeblichen Begriffsunterscheidung zwischen ::Apokalypse und Eschatologie:: ein Bedeutungsgegensatz aufgebaut (beide Begriffe sind nicht biblische Begriffe, sondern spätere Abstraktionen und als komplexe theologische Konzepte unterschiedlich bestimmt worden).
- Mehr oder weniger werden zwar seine palästinische Gemeinde und sein Vorgänger, Johannes der Täufer, als Apokalyptiker beschrieben, doch Bultmann und seine Schüler u. a. behaupten literarkritisch argumentierend: Jesus selbst hätte diese Strömung nicht vertreten und sich davon in eigentümlicher Weise distanziert.
- Gerade die Reich-Gottes-Konzeption Jesu ist ::als Antithese zum bisherigen apokalyptischen futurischen ::Verständnis eine *präsentische Konzeption*, bezeichnet als *eschatologische Haltung*. Die futurischen Aspekte seien dieser Vorstellung nach nicht original Jesus-Worte, genauer gesagt von ihm nur als Sprachform genutzt, der Kern seiner Botschaft (Kerygma) sei aber weisheitlich, prophetisch geprägt.
Religionsgeschichtliche Interpretations-Linie
- Die religionsgeschichtliche Schule (Schweitzer, Bousset) ordnet Jesus deutlich in die Spur der apokalyptischen, außertestamentarischen Texte ein. So lasse sich eine ::historisch plausible Wirkungsgeschichte ::konstruieren. Die Nähe zur jüdischen Theologie, Thoraverständnis als ein primär unterscheidender soziologischer Marker zur Grenzziehung zwischen Juden und Heiden (vgl. New Perspective on Paul) wird dominant.
- Ein neuer Apokalypse-Begriff entsteht, der nicht so sehr auf futurische Zeitdimension fixiert sei. Die Unterscheidung zwischen futurischer Apokalypse und präsentischer Eschatologie sei nur aufgrund theologischer Vorbehalte als theologischer Kampfbegriff eingeführt worden und ist ::historisch nicht plausibel:: zu machen.
- Man könne Jesus historisch nicht aus seinen Vorgängern und seiner Rezeptionsgeschichte ausgliedern, als wäre er direkt vom Himmel gefallen.
- Genau die ::Reichs-Gottes-Konzeption kann nur apokalyptisch verstanden werden::, genauso wie die wesentlichen Inhalte der Predigt Jesu: Menschensohn-Vorstellung, Gerichts-/Rettungvorstellung, Höllen-Konzepte, Engel-Dämonen-Satankonzepte, das Auferstehungs-Konzept (als Anbruch des neuen Äons, was immer damit gemeint sein kann).
Vertreter einer sog. radikalen Eschatologie Jesu war Albert Schweitzer (1901) (im Gegenüber zur radikal uneschatologischen Deutung Jesu nach William Wrede im selben Jahr), der mit seiner Deutung, dass Jesu Predigt einer radikalen Naherwartung sich historisch nicht erfüllt habe, zum Humanisten wurde.
Im Gefolge seiner Deutung kam in der neutestamentlichen Theologie der Nachkriegszeit die heftige Diskussion über die Naherwartung bzw. Parusieverzögerung als das (angeblich leidige) große Problem der urchristlichen Kirche auf, die sich aber erstaunlicherweise in den biblischen Texten nicht nachweisen ließ.
Der Bultmann-Schüler Ernst Käsemann setzte mit seiner berühmten These die Apokalyptik „*als Mutter aller christlichen Theologie*" ins Zentrum seiner Exegese. Er löste aufgrund seiner Bekanntheit damit einen Sturm der Entrüstung und Diskussion aus, blieb aber eher in den Bahnen „eschatologischer“ Vorstellungen.
##Systematisch-theologische Interpretations-Linie
Die historischen Forschungsergebnisse sind vorwiegend durch jeweils systematisch-theologische Interpretationslinien gefärbt, wenn nicht sogar (oft heimlich) begründet. So hat seit 1918 mit dem Aufschlag von Karl Barth mit seinem Römerbrief die Wort-Gottes-Theologie das Jahrhundert geprägt. Die „weisheitliche“ (Jesus als Lehrer, der Lehrsätze verkündet) dialektische Theologie war Grundlage für den Mainstream-Theologen der späten Neuzeit unterschiedlicher Richtungen:
• Bultmanns Existentiales Entmythologisierungsprogramm,
• lutherisch individualistische Rechtfertigungstheologie
• Barthianische dialektische Wort-Gottes-Theologie
• pietistisch individualistische Gerichts- und Rettungsvorstellung der Seele für den jenseitigen Himmel
Es gab wenige Außenseiterpositionen, die systematisch-theologisch die Apokalyptik in ihr Konzept aufnehmen konnten. Allen apokalyptikfreundlichen Theologien war ein neuer Ansatz mit einer ::politisch orientierten, empirisch geschichtlichen Perspektive gemein::. Und auch die 20 unterschiedlichen Konzepte des „third quest“ nach dem historischen Jesus, die allein N.T. Wright referiert, öffnen sich ab den 80ern im englischsprachigen Raum der apokalyptischen Linie und damit der Spur A. Schweitzer, dessen Ansatz sie aber kritisch weiterführen.
Die Reihenfolge zeigt, wie unterschiedlich die Rezeption der apokalyptisch orientierten Theologie verlief: Von einer (1.) fundamentalen bis zu einer eher abnehmenden (3.) peripheren Nutzung apokalyptischer Motive lässt sich die Bandbreite unterscheiden:
- Wolfhard Pannenberg: der eine kontinuierlich-universalgeschichtliche Perspektive aus der apokalyptischen Geschichtstheologie entwickelte
- Jürgen Moltmann, der mit seiner Theologie der Hoffnung mehr die Diskontinuität der Apokalyptik zwischen Abbruch dieses bösen Reiches und neuem Anbruch des guten, göttlichen Reiches favorisierte.
- Gerhard Sauter »ist mit seinem Ansatz „Zukunft und Verheißung" dabei, Theologie als angewiesen auf eine Zukunftsorientierung zu beschreiben; das apokalyptische Bild als Antizipation von Zukunft bringt jede nur fixierte Welt ins Gleiten.«
International-theologische Interpretations-Linie
Seit dem Ersten Weltkrieg haben sich die englischsprachigen Historiker, Exegeten und systematisch-theologischen Entwürfe voneinander entfernt. So kann man von einem deutlichen ::Forschungsunterschied zwischen Kontinentalerforschung und internationaler Forschung:: bis in die späten 70er sprechen. Apokalyptik wurde auf dem Kongress in Uppsala 1979 zu einem international gemeinsamen Forschungsgegenstand. Die Menge der Forschung ist seitdem deutlich im internationalen Kontext (englischsprachige Welt) zu verorten.
##Deutungsmuster
Unterschiedliche Gründe haben zu unterschiedlichen Deutungen für die Apokalyptik als Phänomen geführt.
- Ältere *Apokalyptik-Definitionen *fußen nur auf wenigen Textzeugen.
- Die neuere Forschung integriert neben neuen Funden von Qumran weitere *altorientalische Textzeugnisse aus Iran, Ägypten, Griechenland und römische Texte*.
- Hauptsächlich theologische Begründungen (Vorurteile) führten doch zu einer deutlichen Abwertung und historischen Abwehr gegenüber apokalyptischen Texten.
##Hermeneutische Interpretationslinien
»Muss man Jesus „vor der Apokalyptik retten“, um die Wahrheit des Evangeliums von dem ::erwiesenen Irrtum hinsichtlich der Naherwartung seiner Parusie:: und vor den als unangemessen erkannten ::spekulativen Ausmalung von Gericht und Heil:: zu schützen? Angesichts der schlechterdings zentralen Stellung der Gestalt Jesu von Nazareth für die weitere christliche Verkündigung stellen sich die Fragen nach der Verbindlichkeit der „Weltbildhaften“ Züge der neutestamentlichen Verkündigung zuallererst anhand seiner Person und Botschaft. Deshalb erweist sich die Apokalyptik hier, in Bezug auf den irdischen Jesus, am deutlichsten als Herausforderung für die neutestamentliche Wissenschaft – sofern sich diese nicht lediglich als Religionswissenschaft versteht, sondern als Disziplin im Rahmen der christlichen Theologie zugleich die Frage nach dem Geltungsanspruch der von ihr behandelten Texte mitzubedenken versucht(fn). Die hier aufbrechenden hermeneutischen Fragen können im vorliegenden Rahmen nicht mehr erörtert werden. Nur einige wenige Hinweise müssen genügen:«(Jörg Frey, S. 91)
- Die neuere Apokalyptikforschung hat viel differenzierter und präziser das Anliegen und die theologische Leistung der apokalyptischen Texte erhoben,
- »wenn man sie als symbolische Sinnwelt begreift, die für ihre Trägerkreise eine durchaus wesentliche Funktion zur ::Bewältigung ihrer eigenen Gegenwart, ihrer Welterfahrung und vor allem auch der Erfahrung von Fremdherrschaft, Unrecht und Gewalt:: hatten.... Dieser religiöse Wert apokalyptischer Bildwelten lässt sich im Horizont von Methodenkonzepten wie der Mythos- und Metapherntheorie oder auch der Wissenssoziologie (in) heute sehr viel angemessener Weise zur Darstellung bringen, als dies der älteren Forschung mit ihren beherrschenden liberal-theologischen oder kerygma-theologischen Werturteilen möglich war« (Frey S. 92)
- Mit den biblischen Apokalyptik-Konzepten (im Unterschied zur allgemeinen sprachlichen Begrifflichkeit als Weltuntergang und endzeitlicher Katastrophen) gilt es, »die biblisch-theologische Einsicht geltend zu machen, dass die leitende Perspektive dieser Texte die Aussicht auf das endgültige Heil und die Überwindung von Unrecht, Leid und Tod ist, und dass auch die Vorstellungen von einem göttlichen Gericht letztlich im Dienste der Aufrichtung von Gerechtigkeit stehen, daher keineswegs leichthin eliminiert werden können – weder in der Verkündigung Jesu noch in anderen urchristlichen Traditionszusammenhängen.« (Frey, S. 93)
- »Systematisch-theologisch wäre weiterzufragen, ob nicht die Weltwahrnehmung der Apokalyptiker durchaus eine Reihe von Elementen enthält, die dem neuzeitlichen Denken zwar weithin fremd erscheinen, aber nicht leichthin von der Hand zu weisen sind. … Zu bedenken bleibt aber z. B., ob die in der Apokalyptik entwickelte Sicht der vom Bösen zutiefst „korrumpierten“ Welt und die daraus folgenden Vorstellungen der Erlösung als einer „neuen Schöpfung“ nicht den Erfahrungen von Unrecht, Leid und Tod eher zu begegnen vermögen als andere, anthropologisch und harmartiologisch „optimistischere“ Entwürfe. Die Frage, was dann „wahr“ ist an der Apokalyptik, wäre sehr viel tiefgründiger zu erörtern, als dies in der schnellen Abweisung spekulativer Endzeitberechnungen geschieht.« (Frey, S. 93)
- »Eine letzte hermeneutische Einsicht entspringt der textpragmatischen Forschung und betrifft die in der Exegese mittlerweile ::deutlicher gesehen Rezipientenorientierung der neutestamentlichen Texte.::